Wohin eilen wir?

„Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ. So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag.“ Lk 2, 15-16

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das Leben der Menschen wurde in der Geschichte immer weiter beschleunigt. Es wird behauptet, dass der Beginn dieser Entwicklung in der Nähe der Erfindung der mechanischen Uhr zu suchen ist. Dort wurde die Zeit von den Abläufen der Natur gelöst und eine Größe für sich. Weiters stiegen die Menschen aufs Gas, als sie die Eisenbahn erfunden haben, die die Geschwindigkeit der Reittiere um einiges überbot. Das zwanzigste und das einundzwanzigste Jahrhundert zeichnen sich vor allem im Bereich der Flugfortbewegung und der Kommunikation durch gewaltige Beschleunigung aus. Denn wer hat schon im neunzehnten Jahrhundert täglich an einem normalen Tag mehrere Telegramme verschickt? Heute heißt sowas sms oder whatsapp und wird nicht selten um ein Vielfaches überboten.

Diese Beschleunigung wird in alle Lebensbereiche übertragen und insbesondere in bestimmte Zeiten. Der Advent ist scheinbar ein Paradebeispiel dafür. Die vorweihnachtliche Zeit wird oft als die hektischste Zeit im Jahr erlebt und genannt. Die Hektik wird dadurch verursacht, dass man innerhalb von drei bis vier Wochen die Seele auftanken möchte und verschiedene Konzerte sowie kulturelle, religiöse oder pseudoreligiöse Veranstaltungen besucht, dass man sich auf einmal daran erinnert, dass man oberhalb des Bauchnabels auch noch ein Organ hat, das man Herz nennt und es zumindest einmal im Jahr warm schlagen sollte. Es wird hektisch, weil man auf einmal die Familie zusammenführen möchte oder die längst vergessenen Freundschaften auffrischt und alle bisherigen Versäumnisse reichlich materiell ausgleicht.

Als ich gestern einen 87-jährigen Priester besuchte, fragte er „Bist Du in Eile?“ und bevor ich etwas darauf sagen konnte, antwortete er selber: „Vor Weihnachten muss man in Eile sein, weil es schon in der Bibel heißt: „Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ. So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag.“ Also in Richtung Bethlehem, in Richtung  Geburt Christi muss man eilen.

Dieser Satz machte mich nachdenklich und ich frage mich, wo eilen die Menschen unserer Zeit hin? Wenn das Ziel Bethlehem wäre, dann wäre das sogar eine heilige Eile und die gibt es tatsächlich im Leben. Dort wo jemand in der Not nicht zuschaut, sondern sofort zupackt, dort wo jemand sich nicht wegdreht, sondern sich sofort auf die Seite der Schwachen stellt, dort wo jemand auch gegen die Trends nicht alles abwiegt, sondern sofort hilft. Dort eilen wir nach Bethlehem und finden Gott mitten unter den Menschen.

Es gibt aber auch diese andere Art von Eile, die uns von Betlehem schnell wegbringt. Sie ist dort, wo jemand skrupellos alle hinter sich lässt, um eigenen Vorteil zu haben. Sie ist dort, wo jemand die Ellbogenstrategie verwendet, um den eigenen Arbeitskollegen nicht die gleichen Chancen der Entwicklung zu geben. Sie ist dort, wo der Mensch im Leben die anderen vergisst, weil er nur noch sich selbst sieht und spürt und alles dem eigenen Ego unterordnet. Die Eile führt uns weg von den Menschen und dadurch auch weg von Gott.

Dass die ungesunde Beschleunigung das Leben krank macht, bezeugen mittlerweile nicht nur die Ärzte, sondern auch Statistiken. Weil die Menschen unter Zeitdruck stehen, weil sie die Pausen nicht einhalten, weil sie statt in Ruhe zu essen zum Fast Food greifen, weil sie zum ständigen Multitasking – also zur Gleichzeitigkeit gezwungen werden – erhöhte sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland um 70 Prozent. Die Eile, die krank macht.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
als die Hirten nach Bethlehem eilten, hatten sie kein Herzrasen aufgrund der Geschwindigkeit, die sie an den Tag legten, sondern im besten Fall aufgrund der Begegnung mit Gott. Und ich bin sicher, dass sie, als sie bei der Krippe angekommen waren, in ihre orientalische Mentalität zurück gefallen sind, sich niedersetzen und unendlich viel Zeit für das Kind und seine Eltern hatten. Denn, wenn man mit Gott und mit den anderen Menschen zusammenkommt, spielt die Zeit dort keine Rolle, man hat sie einfach.

Ich wünsche uns allen, dass wir von den eilenden Hirten etwas lernen. Ich wünsche uns, dass wir vor allem dorthin eilen, wo unsere persönliche Hilfe gefragt wird, dass wir vor allem nicht zögern, wenn wir Menschen in Not sehen, dass wir nicht überlegen, sondern eingreifen, wo Unrecht geschieht. Ich wünsche uns aber auch, dass wir von der Mentalität der Hirten lernen, um sich Zeit für Gott, für andere Menschen und für sich selbst zu nehmen; um sich nicht vom Banalen und Unwichtigen ablenken zu lassen, sondern Zeit zu haben, um immer dem Wesentlichen des Lebens nachzulaufen.

Slawomir Dadas
Pfarrer