In der Liebe Christi bleiben

„Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer.Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. (…) Bleibt in mir und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.(…)Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. (…) Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe.“ Joh 15, 1-12

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
wenn ich Sie direkt fragen würde, warum Sie sich von Ihrem Nachbar oder Ihrer Nachbarin unterscheiden, würden Sie mir sicher sagen, weil es gut ist, wenn Menschen unterschiedlich sind und ihre Individualität behalten. Die Frage, ob die Verschiedenheit gut ist, wird in der Regel schnell bejaht, aber die Vielfalt auszuhalten und mit ihr friedlich zu leben, kann manchmal zu Problemen führen. Auf der anderen Seite erleben wir oft in der Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten ein Unbehagen. „Die Fremden“ werden oft zum politischen Spielball, mit dem man einige Stimmen der Ängstlichen und Unsicheren gewinnen kann.

Gerade im Zusammenhang mit der Europäischen Union gibt es immer wieder Diskussionen über die Einheit der Vielfalt. Wie viel Gleichheit und wie viel Differenz braucht es zwischen den Ländern, damit ihre Bürger sich als Teil eines großen Ganzen, aber auch im hohen Maß autonom erfahren? Müssen sich die Menschen in Österreich zuerst als Europäer fühlen, um richtig dazu zu gehören, oder reicht es, wenn sie zuerst Österreicher sind und Europa und die Zugehörigkeit zu ihm erst an der zweiten Stelle steht? Müssen alle gleich denken, fühlen, in allen Bereichen die selbe Meinung vertreten oder hält es so eine Gemeinschaft aus, wenn einige ihrer Mitglieder größere Unterschiede aufweisen in solchen Bereichen wie Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes, des Tötens auf Verlangen oder des Klimaschutzes? Der gerade vollzogene Brexit zeigt uns, dass die Einheit nicht selbstverständlich ist und manchmal sehr brüchig werden kann, wenn die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen nicht richtig berücksichtigt werden.

Auch die Kirche erlebte im Laufe ihrer langen Geschichte einige Brüche, die uns bis heute weh tun müssten. Denn diese Brüche sind gegen die Bitte Jesu gerichtet, die lautet: “ Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Darum ist es so wichtig, die Gebetswoche um die Einheit der Christen immer wieder zu begehen als Zeichen und als ausdrücklicher Wunsch, dass wir uns nach der Einheit sehnen und sie erbeten wollen.

Natürlich kann diese Einheit nicht dadurch erreicht werden, dass man den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht. Sie kann auch nicht dadurch erreicht werden, dass man sich den anderen um jeden Preis anpasst, sondern in dem man das eigene Leben als Christin und als Christ auf Jesus und auf seine Botschaft ausrichtet, um im selben Geist zu leben und zu handeln.

Das Motto für die diesjährige Gebetswoche für die Einheit der Christen „Bleibt in meiner Liebe und ihr werdet reiche Frucht bringen“ wurde der Rede vom wahren Weinstock aus dem Johannesevangelium entnommen (Joh 15,1-17). Es macht uns bewusst, dass es weder für einen einzelnen Christen noch für die christliche Gemeinschaft möglich ist, Früchte zu bringen, wenn sie nicht in der Liebe Jesu verwurzelt bleiben.

Die ökumenische Gemeinschaft von Grandchamp in der Schweiz, die in die Vorbereitung dieser Woche eingebunden war, sieht unterschiedliche Schwerpunkte in diesem Wort des Johannes. Zuerst unterstreicht sie, dass die Verwurzelung in der Liebe Gottes ein Leben im Einklang mit sich selbst bedeutet. Es bedeutet, sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen, um auf die Geschichten der anderen versöhnt schauen zu können. Daraus entsteht das Leben im Einklang mit der Gemeinschaft, zu der ich selbst gehöre aber auch zu anderen Gemeinschaften, die zu Christus gehören, aber in anderen christlichen Traditionen leben. Und der versöhnte Blick auf sich selbst, die Annahme in Liebe der anderen Menschen als Schwestern und Brüder, obwohl sie ihre eigene Geschichten mit Christus haben, führt zum Leben im Einklang mit Gott, der uns alle als seine Kinder liebt und segnet.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das Bleiben in der Liebe Christi ist nicht der kleinste Nenner, auf dem die Einheit gebaut werden sollte, sondern die Quelle, die uns fähig macht, die Nächstenliebe zu praktizieren und in den Menschen mit anderen christlichen Traditionen Schwestern und Brüder zu sehen. Das Bleiben in der Liebe Christi heißt, auf die anderen zuzugehen und sie mit ihrer Unterschiedlichkeit anzunehmen.

Ich wünsche uns allen, dass wir immer mehr darauf bedacht sind, eine tiefe Beziehung zu Jesus zu pflegen und aus seiner Botschaft zu leben. Ich wünsche uns, dass wir die Vielfalt im Glauben nicht nur bejahen, sondern uns auch öffnen können für andere christliche Kirchen und Gemeinschaften, damit uns die Einheit durch Christus und seine Liebe geschenkt werden kann.

Slawomir Dadas
Pfarrer